10.12.2011

Evo-Devo oder: Der gelenkte Zufall

Wie die Entwicklungsbiologie zu einem tieferen Verständnis der Evolution beiträgt

Nach darwinistischer Lesart beruht die biologische Evolution primär auf dem Wechselspiel von zufälligen Mutationen und natürlicher Selektion. Dieser Prozess setzt jedoch nicht erst auf der Ebene des ausgebildeten Individuums ein, sondern bereits auf der Stufe der embryonalen Entwicklung. Hier wird, wenn man so will, über den künftigen »Bauplan« des Körpers entschieden. Also darüber, ob ein Tier radial- oder bilateralsymmetrisch aufgebaut ist, wo sich Kopf und Schwanz, Rücken und Bauch befinden.

Bekanntlich ist bei der Befruchtung von Ei- und Samenzelle die phänotypische Form des Individuums noch nicht realisiert. Es stellt sich deshalb die Frage, auf welche Weise die genetische Information in organische Struktur umgesetzt wird. Und wie stark dabei auch nichtgenetische Faktoren mitwirken.

Bei der Suche nach Antworten darauf hat sich in den letzten Jahren eine Disziplin etabliert, die man "Evolutionäre Entwicklungsbiologie" oder kurz "Evo-Devo" nennt (von engl.: Development = Entwicklung), und von der sich Biologen wichtige neue Forschungsimpulse erhoffen.

Eine theoretische Voraussetzung von Evo-Devo ist, dass Organismen auf molekularer und anatomischer Ebene aus eigenständigen integrierten Einheiten (Modulen) bestehen, die sich in der Evolution früh herausgebildet haben und anschließend konserviert wurden. Ein Beispiel hierfür sind die bei allen vielzelligen Tieren vorkommenden Hox-Gene, die den Embryo vornehmlich entlang der Längsachse gliedern. Ihre Entstehung reicht mindestens zurück bis in die Zeit der kambrischen Explosion, bei der vor rund 540 Millionen Jahren fast alle "Baupläne" der noch heute lebenden Tierstämme entstanden sind.

Statt also bei der Segmentierung der verschiedenen Tierkörper jedes Mal auf die passenden zufälligen Mutationen zu warten, setzte die Evolution darauf, bereits bewährte Module wie die Hox-Gene zu verändern oder neu zu kombinieren. Im Grunde habe die Natur mit einer sehr begrenzten Anzahl von Gengruppen und Signalnetzwerken nach dem Baukastenprinzip alle Organismen gestaltet, sagt der Darmstädter Entwicklungsbiologe Prof. Paul G. Layer und illustriert dies am Beispiel des Übergangs von echsenartigen Reptilien zu Schlangen. Hierfür waren nämlich nur zwei Mutationen in bereits vorhandenen Hox-Genen nötig. So wurde das für die Anzahl der Rumpfsegmente zuständige Hox-Gen vervielfacht, während zwei andere Hox-Gene sich so veränderten, dass es zu keiner Ausbildung von Gliedmaßen kam.

Biologen sprechen in diesem Kontext von "erleichterter Variation". Zwar fußt auch danach die Evolution auf zufälligen Mutationen, doch ist der Zufall hier von vornherein in vernetzten Modulen kanalisiert. Das erklärt, warum es in der Evolution so viele genetische Parallelentwicklungen gibt, die letztlich zu völlig unterschiedlichen Phänotypen führen. So differieren etwa die Gehirne von Mensch und Schimpanse in genetischer Hinsicht relativ wenig. Es sind vielmehr regulatorische Prozesse im Genom sowie Einflüsse der Umwelt, die dafür sorgen, dass sich beim Menschen bestimmte Hirnareale im embryonalen Zustand unterschiedlich entwickeln, etwa durch Verlängerung ihres Wachstums, und dadurch neue Formen der Kognition ermöglichen.

Generell gilt: Haben sich bestimmte Module in der Evolution bewährt, werden sie nicht so rasch wieder aufgegeben, sondern dienen möglichen Neuentwicklungen als Unterbau. Betrachten wir dazu noch einmal das menschliche Gehirn, in dessen vermeintlich perfektem Design man in Wahrheit zahlreiche Spuren einer Millionen Jahre währenden Evolution findet. So ist etwa die allgemeine Anlage von Hirnstamm, Kleinhirn und Mittelhirn bei Säugetieren ähnlich wie bei Reptilien. Das lässt vermuten, dass die »höheren« Hirnareale nicht aus einer grundsätzlichen Umgestaltung des Gehirns hervorgegangen sind. Sie wurden in der Evolution vielmehr auf bereits vorhandene Areale obendrauf gepackt. Die meisten Versuche dazu scheiterten wohl, die erfolgreichen Kombinationen blieben dank der natürlichen Selektion erhalten.

Im Rahmen des Evo-Devo-Konzepts wird die oft überschätzte Rolle der Gene noch in anderer Hinsicht relativiert. Stichwort: ontogenetische Plastizität. Damit ist gemeint, dass in einem Genotyp zahlreiche phänotypische Eigenschaften schlummern können. Welche sich davon in der Ontogenese durchsetzen, hängt von speziellen genetischen Schaltern ab, für deren An- und Ausknipsen unter anderem die Umwelt sorgt.

In einem Experiment wurden Schlammspringer, das sind amphibisch lebende Fische, monatelang mit dem Hormon Thyroxin behandelt. Ergebnis: Die Kiemen verkleinerten sich und die Lungenatmung nahm zu. Folglich konnten die Tiere länger ohne Wasser leben als gewöhnlich. Zwar sind solche umweltinduzierten Modifikationen nicht erblich. Allerdings kann eine übermäßige Thyroxin-Ausschüttung auch durch eine Mutation bewirkt werden. Das legt den Schluss nahe, dass kleine genotypische Variationen unter Umständen ausreichen, um große phänotypische Veränderungen zu erzeugen, die sich in einer neuen Umwelt eventuell als vorteilhaft erweisen.

Anders als die Kritiker Darwins gern behaupten, muss nicht jede makroevolutionäre Neuerung extra erfunden werden. Sieht man einmal davon ab, dass viele biologische Innovationen schlicht auf einem Funktionswechsel beruhen (die Federn der Vögel dienten ursprünglich der Wärmeisolation), bleiben andere solange im Genom verborgen, bis sie durch adäquate Umweltreize realisiert werden. neues-deutschland.de